Samstag, 22. Februar 2014

No tengo suelto

In Ecuador ist es möglich, in weniger als einem Tag, sowohl der Costa, der Sierra, als auch dem Oriente einen Besuch abzustatten – drei völlig differente Typen, die sich nicht nur durch ihr Landschaftsbild, sondern auch durch ihre Sitten, Bräuche, Sprache, etc. voneinander unterscheiden. Nachdem ich also einen Strandurlaub an der Küste genossen und Neujahr mit meiner Familie im Hochland gefeiert habe, wage ich mich, gemeinsam mit Hugo, erstmalig in das Gebiet des Amazonas, das den östlichen Teil des Landes einnimmt.
 
Die erste Etappe unserer Reise führt von Cuenca nach Macas, eine Provinzhauptstadt im Oriente. Während der Bruder meiner Gastmutter für jene Strecke mit dem Auto weniger als drei Stunden benötigt, dürfen wir eine mehr als siebenstündige Busfahrt genießen. Und als die Räder auf eine Schotterstraße rollen, die sich die Berghänge hinauf und hinunter schlängelt, denke ich noch, dass ich davon mit Sicherheit nach einer halben Stunde erlöst bin … Im Endeffekt geht es jedoch mehr als drei Stunden derart ruckelnd und schwankend dahin. Dafür entlohnt die Aussicht die Strapazen: Fruchtbares Grünland beherbergt eine Pflanzenvielfalt, gespeist von Flüssen, die gelegentlich als Wasserfälle über Felsvorsprünge rauschen. Nebel und Regen wechseln sich ab und schaffen eine ganz eigene, urtümliche Atmosphäre.
 
Macas ist eine unscheinbare Siedlung mit einem hübschen Zentrum, das sich in Prinzip aber nicht groß von den unzählig zuvor passierten Dorfzentren unterscheidet.
 
Nach weiteren drei Stunden – womit wir unser Tagespensum an Busfahren erfolgreich bewältigt hätten – erreichen wir in den Nachtstunden unseren Zielort, Puyo. Auf unserem Hinweg bekommen wir den aktiven Vulkan Sangay zu Gesicht – eindrucksvoll erhebt er sich, unnahbar in seiner Größe, in Brand gesetzt vom Licht der untergehenden Sonne. 
 
Puyo ist eine Kleinstadt, die aufgrund eines vielfältigen Ausflugsangebots in nächster Nähe ihre touristische Attraktivität untermauert. Das Klima präsentiert sich uns gleich am ersten Tag in seiner ganzen Eigenheit: Regen. Eine tiefhängende Wolkendecke stülpt sich glockengleich über die Stadt, Nebel schwappt entlang der umliegenden waldgesäumten Berghänge und die schwüle Luft erstickt jeden aufkommenden Windhauch. Etwas Gutes hat das Wetter aber doch – aufgrund des Regens, der vormittags die Straßen durchnässt und gegen Mittag (mehr oder weniger) zum Erliegen kommt, habe ich eine mehr als plausible Entschuldigung, lange auszuschlafen …


 
 


Bei unseren Spaziergängen durch Puyo lerne ich den „malecón“ (dt. (Strand-)Promenade) kennen und folge einem zwei Kilometer langen, ruhig und gepflegt angelegten Weg, der vom gleichnamigen Fluss „Rio Puyo“ begleitet wird.


 
Weihnachtsbaum
 
 
 


„Yanacocha“ nennt sich eine Auffangstation für Wildtiere, in dem Freiwillige arbeiten und, in unmittelbarerer Nähe der Tiere, wohnen. Ein Pfad führt an Gehegen von Papageien, Affen, Krokodilen und Schildkröten vorbei, deren Umgebung von Teichen durchzogen und mit dichtem Grün bepflanzt ist. Eine außerhalb der Stadt gelegene Auffangstation für Affen weckt ebenfalls unser Interesse. Da die Sonne bereits am Untergehen ist, hat sich der Wirbel des tagsüber veranstalteten „Affentheaters“ gelegt, nichtsdestotrotz begrüßt uns der Besitzer gastfreundlich. Es gibt zwar Gehege, die meisten davon umspannen jedoch viel Auslauf, wenn sich die Tiere nicht sowieso – jeglichen Zäunen trotzend – in ungeahnten Höhen von Ast zu Ast schwingen …

 


Unser letzter Ausflug führt zu einem der zahlreichen in unmittelbarerer Umgebung befindlichen Wasserfälle. Aufgrund des vielen Regens erinnert der zu bestreitende Trampelpfad mehr an einem Bachlauf als Fußweg. Schlamm, Pfützen und dergleichen lassen uns – in Ermangelung von wasserfester Kleidung – also gleich auf unser Schuhwerk verzichten, sodass wir den Wasserfall, namens „Hola Vida“ (dt. Hallo Leben), zwar durchnässt und schlammbespritzt, aber glücklich erreichen. Aus 40 Meter Höhe stürzen die Wassermassen schäumend und wirbelnd in die Tiefen.

 
 
 
 
 
 
 
 
Viel zu schnell neigt sich unser Oriente-Besuch dem Ende zu und wir kehren nach Cuenca zurück; dieses Mal über eine etwas andere Route, jedoch nicht weniger zeitintensiv. Und wer will, darf sich jetzt gerne ein Bild von der Durchschnittsgeschwindigkeit machen: 4 Stunden für 165 Kilometer.
 
Bleibt mir nur noch, meine Titelwahl näher zu erläutern: „No tengo suelto“ bedeutet zu Deutsch in Etwa „Ich habe kein Klein/Rückgeld“. In der Regel will man in Ecuador nicht gerne mit großen Scheinen bezahlt werden – und mit groß meine ich, nicht mehr als zehn Dollar. Diese „Eigenheit“ erreichte in Puyo ihren Höhepunkt – keinen Satz hörte ich so oft wie „No tengo suelto“. Auch beim Bezahlen mit einem 10er- oder gar 5er-Schein wurden wir mit einem entschuldigenden Schulterzucken abgewunken und mussten das Geschäft oder Restaurant, ohne konsumieren zu können, verlassen. Kleingeld-Mangel war also vorprogrammiert!
 
 
 
Ausblick: gelbe Bäume – einzigartiges Naturschauspiel
 
 

Sonntag, 16. Februar 2014

Arbeitsresümee im Dezember

Auch wenn der Dezembermonat aufgrund der Feier- bzw. Urlaubstage relativ kurz ausfiel, wurde fleißig in Terapia Ocupacional gewerkelt, wobei natürlich alles ganz im Zeichen von Weihnachten stand:
 
Klopapierrollen und Eierkarton, mit Farbe versehen, dienten uns für die Herstellung von Blumenschmuck, der für den Tisch oder die Eingangstür gedacht ist.


 
 
 
Die im letzten Arbeitsresümee erwähnten Bäume erfuhren einen kreativen Wandel: Da uns einige Zeitungspapierrollen-Baumstämme übrig geblieben waren, dachte ich daran, jene in Blumenvasen umzuwandeln. Himmelblau angemalt überzeugte uns jedoch eine der Schwestern, daraus Kerzenständer zu basteln, die für die im Essenssaal abgehaltene Messe dienten.


 
 
 
Die bereits im November angefangen Blumen (aus Eierkarton) wurden weiterhin hergestellt und erweitert: Neben der herkömmlichen Version fertigten wir, gemäß des Monats, so genannte rot aufgeblühte „Weihnachtssterne“ an.


 
 
 
Apropos Sterne – eine Vielzahl davon fabrizierten wir aus Klopapierrollen und bestäubten sie anschließend mit Glitzerstaub. Und wird mit jenem Material gearbeitet, glitzert im Nachhinein nicht nur die Bastelei, sondern auch alle Abuelitos …


 
 
 
 
Ein Nachmittag wurde genützt, um die Fundacion weihnachtlich zu schmücken: Im Salon der Abuelitos stellten wir eine Krippe auf und hängten Lichterketten und Engel auf Gezweige. Der Treppenaufgang zu den Schlafzimmern wurde mit einer Sternengirlande dekoriert und auch dem Essenssaal zieren Girlanden (siehe Resümee im September). Sowohl dort als auch im Garten wurden Bäumchen mit Weihnachtsschmuck behängt und diverse Türen begrüßen den Eintretenden mit einem Weihnachtsmotiv.
 
 
 
 
Der selbstgemachte Adventskalender kam natürlich auch zum Einsatz – auf einer Liste waren alle Abuelitos vermerkt und jeden Tag bis zum 24. durfte sich ein Pärchen über ein Säckchen Süßigkeiten freuen.


 
 
 

Lejos de ti - Américo feat Orquesta Candela

 
Abgesehen von Terapia Ocupacional beteiligte ich mich auch an anderen Aktivitäten, wie beispielsweise Terapia Fisica, Bingo und dem Vorlesen von Geschichten. Auch wenn bei zuletzt genannter Beschäftigung alle Abuelitos im „Wohnzimmer“ versammelt sind, muss man sich ehrlich eingestehen, dass die Hälfte derer zu dösen pflegt; sei es, weil sie das Gesagte nicht verstehen, nicht derart lange Aufmerksamkeit schenken können oder schlicht nicht mehr gut hören. Nichtsdestotrotz gibt es einige, die regelrecht an den Lippen des Erzählers hängen (meist ist es Hugo) und gelegentlich so gerührt sind, dass sie Tränen in den Augen haben.

 
 
 
 
Ausblick: regenintensiver Besuch im Amazonas
 

Flaschenpost

Im Dezember gönne ich mir meinen ersten Urlaub und fahre nach Weihnachten für ein paar Tage an die Küste. Während also meine Familie dem alljährlichen Wintersport frönt, erreiche ich in Shorts und T-Shirt die Metropole Guayaquil. Auf meinem Weiterweg nach Puerto Lopez lege ich einen Teilabschnitt der berühmten „Ruta del Sol“ (dt. Sonnenroute) zurück – eine Strecke, die teilweise direkt am Meer entlang führt und zu den schönsten Küstenorten bzw. Stränden Ecuadors führt.
 
Puerto Lopez ist ein malerisches Fischerdorf, das trotz seiner touristischen Anziehungskraft nicht überfüllt wirkt. Die weite Bucht lädt zu ausgedehnten Spaziergängen ein – die ich natürlich in der allergrößten Mittagshitze bestreite und mir prompt einen Sonnenbrand einfange. Bei jedem Schritt scheuche ich Krebse auf, die in Windeseile in ihre Löcher verschwinden, und Möwen ziehen wild kreischend ihre Kreise, auf der Suche nach dem besten Stück Fisch – wenn nicht im Wasser, so auf einem der ankommenden Boote. Vor allem in unmittelbarer Nähe der Bars, die mit Hängematten und frischen Fruchtsäften locken, entgeht mir nicht, dass der Strand und das Wasser nicht ganz sauber sind … Dafür ist der Hafensteg hübsch gestaltet und bietet einen endlosen Ausblick über das Meer.
 
An meinem zweiten Tag erreiche ich nach einer zehnminütigen Busfahrt den einzig küstennahen Nationalpark Ecuadors "Machalilla", um dort einen hoch gelobten Strand auszukundschaften … Die Hinfahrt hält mich mit einem grünen Blättertunnel, den wir passieren, in Atem. Am Parkeingang zahle ich ein Tuk-Tuk-Taxi, das bei seiner Fahrt über die Schotterstraße zwar jeden Moment in seine Einzelteile zu zerfallen scheint, mich aber schließlich heil absetzt. „Los Frailes“ ist ein kilometerlanger weißer Sandstrand, der – ich wurde vorgewarnt! – keinerlei Schatten bietet. Das Wasser ist von einem kräftigen Blau und bricht sich in schäumenden Wellen. Aufgrund der Abwesenheit jeglicher Geschäfte und Restaurants und seiner relativen Abgeschiedenheit ist die Bucht sehr sauber und frei von Menschenmassen. Ein Aussichtspunkt gewährt einerseits freie Sicht auf den Badestrand, andererseits auf einen verlassenen Küstenabschnitt, zu dem sich nur wenige Leute verirren - wohl auch aufgrund der risikoreichen dem Baden abträglichen Strömungen. Dort ragt eine Sandzunge ins Meer, wo sich die Wellen ausschweifend brechen und in mir das Kind wecken – spritzend renne ich durch das Wasser.
 
Und weil es so schön ist, fahre ich am folgenden Tag gleich nochmal dorthin …


 
 

In A Perfect World - The Sam Chase


Meine Rückfahrt fällt auf den letzten Tag des Jahres und just da werde ich gleich zwei Mal vom Pech verfolgt: Zu Beginn hat der Bus von Puerto Lopez nach Guayaquil eine Panne und wir werden gezwungen auf halben Wege – auf weiter Flur kein Dorf in Sicht – auszusteigen. In einem nachfolgenden Bus, der ein paar Passagiere mitnimmt, gelingt es mir jedoch, einen Sitzplatz zu ergattern. Und wie es der Zufall will, kommt auch mein zweiter Bus von Guayaquil nach Cuenca mit kläglich röhrendem Motor zum Stillstand. Zu diesem Zeitpunkt befinde ich mich im Nationalpark „El Cajas“, in luftigen Höhenmetern, eingeschlossen von Nebel und Regen … Behelfsmäßig wird das Getriebe repariert, auch wenn ich bei jedem nachfolgenden stotternden Motorgeräusch die Daumen drücke und erleichtert bin, als endlich unser Zielort in Sicht kommt. Damit wäre ich also von der Angst befreit, „fin del año“ im Bus zu feiern …
 
Drei Stunden vor Mitternacht komme ich, nach wie vor in kurzer Hose – das wäre damit das erste Silvester in Sommerkleidung! -, zu Hause an.

Wie wird nun also Neujahr in Ecuador gefeiert? Was ist neu für mich?

An der Küste sind die Straßenränder mit Puppen-Verkäufern bevölkert. So genannte „año viejos“ verkörpern das vergangene Jahr und, in allen Größen, aus Pappe angefertigt, stellen sie einfache Personen, Superhelden, Film- und Cartoon-Gestalten oder auch Tiere dar. Jedes Haus ist mit mindestens einer dieser Puppen drapiert, manchmal in besonders kreativer Art und Weise – bei einem Kartenspiel, auf einen Motorrad, etc. Viele haben die „año viejos“ auf ihren Autos fixiert – da braust dann beispielsweise ein Taxi mit einem überdimensionalen Pappmaschee-Meerschweinchen an dir vorbei. Auch in der Sierra gibt es diesen Brauch, wenn auch nicht derart ausgeprägt und in etwas anderer Ausformung: Dort sind die Puppen aus Stoff und mannsgroß. In der Regel repräsentieren sie Personen aus dem öffentlichen Leben; oftmals Politiker und Schauspieler, versehen mit sarkastischen bis negativen Sprüchen. Um Schlag Zwölf werden dann all diese Puppen verbrannt und das neue Jahr wird eingeläutet … Bei meinem Spaziergang durch die Gassen Chordelegs passiere ich unzählige dieser „Scheiterhaufen“.

Viele Männer machen sich einen Spaß daraus, sich als Witwen zu verkleiden und „um Almosen für die Beerdigung des verstorbenen Ehemannes zu betteln“ … Dabei geht es aber alles andere als trauernd zu.

Ein Brauch, der mir sehr gut gefällt, ist der Verzehr von zwölf Trauben, wobei jede Frucht einen Monat widerspiegelt, für den man sich etwas wünscht …



Ausblick: Überblick und Zusammenfassung meiner Arbeit im Dezember
 
 
[Da das Display meiner Kamera kaputt gewesen ist, war es mir leider nicht möglich, Fotos zu machen.]

Donnerstag, 6. Februar 2014

Feliz Navidad!

Dieses Jahr verbringe ich Weihnachten 10500 Kilometer von meinem zu Hause entfernt; auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Land, mit einer anderen Familie. Trotz einiger bestehender Gemeinsamkeiten, ist es nicht verwunderlich, dass sich hier viele Dinge anders abspielen:
 
Bereits am 1. Dezember – ungewöhnlich früh für mich – präsentiert sich das Haus festlich dekoriert, mit einem geschmückten Christbaum im Wohnzimmer, den man seine künstliche Beschaffenheit nur aus nächster Nähe ansieht. Und nicht nur die Abuelitos dürfen sich über einen Adventskalender freuen – auch ich habe einen von der Freiwilligenorganisation geschenkt bekommen.
 
Da mich die Arbeit ziemlich vereinnahmt, komme ich erst am letztmöglichen Wochenende dazu, Geschenke einzukaufen bzw. zu basteln. Besonders in Cuenca wurde an Weihnachtsdekoration nicht gespart; überdimensionale schwer behangene Christbäume, Girlanden, blinkender Lichterschmuck … - alles, was das Herz begehrt. Auch wenn mir der weißbärtige Weihnachtsmann, der mir bei praller Sonne „Ho! Ho! Ho!“ zuruft, doch etwas unwirklich vorkommt …
 
Am 24. Dezember findet eine Parade durch ganz Chordeleg statt, die zu unserem Glück direkt am Haus meiner Gastfamilie vorbeiführt. Bereits wenige Tage zuvor ereignete sich ein ähnliches Spektakel; dieser Umzug ist jedoch von ganz anderem Kaliber: Im so genannten „Pase del niño“ (typisch in der Umgebung von Cuenca, einmalig in Ecuador) erwachen so gut wie alle bekannten Bibelgeschichten bzw. –gestalten zum Leben; auf aufwendig geschmückten Autos ziehen unter anderem Eva und Adam, Moses und Jona und der Wal an mir vorbei. Mit viel Liebe zum Detail wurden hier Kostüme genäht, Accessoires gebastelt und Essen drapiert. Doch nicht nur das – auch typische Weihnachts- und Märchenmotive, wie Elfen, Wichtel und Schneewittchen, erleben, durchwegs von Kindern und Jugendlichen verkörpert, ihren Auftritt. Immer wieder wird die Autokolonne von Tänzergruppen unterbrochen, die sich zu den Klängen landestypischer Musik bewegen. Auch ein paar jüngere Mitglieder meiner Familie nehmen an jedem Festzug teil, wobei die nachfolgenden Fotos nur einen Bruchteil jenes Großereignisses darzustellen vermögen …


 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
Am zweiten Feiertag, den 25. Dezember, vollzieht sich das eigentliche Weihnachtsfest im Kreise der Familie und enger Freunde. Als der seit Stunden im Ofen schmorrende Truthahn aus dem Ofen genommen wird und das aufwendige Herumwerkeln in der Küche zu seinem Ende kommt, ist es zehn Uhr nachts und wir alle dementsprechend hungrig. Da mehr als dreißig Personen im Haus von Marlenes Eltern zusammenkommen, pflegt man hier „amigo secreto“ („geheimer Freund“, vgl. Wichteln) zu spielen. Ich überrasche einen Jungen mit Spielzeug und bekomme umgekehrt von Marlenes Schwester Silberohrringe und ein passendes Armband geschenkt. Wie jedes Jahr stellt jedoch Gewand das am meist verschenkte Gut dar, was wohl auch daran liegen mag, dass Kleidung hier überdurchschnittlich teuer ist.

 
 
 
 
Der dritte und letzte Weihnachtsfeiertag steht abermals ganz im Zeichen eines Festzuges, wobei ich mich dieses Mal zu den TeilnehmerInnen zählen darf … (Wie ich mir hab sagen lassen, finden in dieser Zeit des Jahres in der Sierra fast täglich irgendwelche Umzüge statt.) Wir haben uns Trachten der Cholas und Otavelnos ausgeborgt und wandern, derart eingekleidet, zu einer unweit entfernten Kapelle, wo eine Messe abgehalten wird und alle Getränke und Süßigkeiten erhalten. Am Abend genießen wir wieder ein Familienessen.





Ausblick: Besuch an der Küste - Neujahr

 

Dienstag, 4. Februar 2014

Sonnige Weihnachten

Da der Freitag vor Weihnachten der letzte Schultag ist, findet in der Schule der Fundacion eine „casa abierta“ – in Etwa vergleichbar mit „Tag der Offenen Tür“ – mit inkludiertem Weihnachtsprogramm statt. Alle, die Abuelitos eingeschlossen, finden sich in der offenen Sporthalle zusammen, wo ein Lehrerchor auftritt, Theater dargeboten wird und die Eltern der SchülerInnen traditionelle Tänze zum Besten geben. Als Jause wird Rosero (ecuadorianische Spezialität, getreidehaltiges Fruchtgetränk) ausgeschenkt und Kuchen verteilt. Schließlich kommt die Reihe an die Abuelitos – wir bekommen die erstmalige Gelegenheit, die Arbeiten, die wir in Terapia Ocupacional angefertigt haben, auszustellen und zum Verkauf anzubieten. Und tatsächlich ist der Besichtigungstisch bereits nach kurzer Zeit von einer Traube Menschen umringt; hauptsächlich Kinder, die Interesse zeigen, die Dinge neugierig berühren und an den Rockzipfeln ihrer Mütter um ein paar Cents quengeln … Insbesondere die Pinguine und Globen erfreuen sich großer Beliebtheit. Wir sind glücklich über diesen gänzlich unerwarteten Erfolg und haben mit der eingenommen Geldsumme die Möglichkeit, fehlende Materialien für die Abuelitos einzukaufen.

Am 23. Dezember feiern wir Weihnachten mit den Abuelitos. Da es ein sonnig warmer Tag ist (An solche Weihnachten könnte ich mich gewöhnen!), versammeln wir uns mit den Abuelitos draußen, singen Lieder, hören Musik, tanzen, lösen Rätsel, erzählen Anekdoten … Die Praktikantin Christina und eine neu hinzu gekommene Studentin bzw. angehende Psychologin haben sich mit Trachtengewand eingekleidet  und bieten einen Tanz dar. Währenddessen sind die beiden anderen Freiwilligen, die mit mir in der Fundacion tätig sind, bei gefühlten hundert Grad in der Backstube fleißig am Teig Ausrollen und Kekse Ausstechen … Später gibt es für das gesamte Personal von FUSMAE ein Mittagessen, wofür eigens ein Schwein geschlachtet wurde, das halb ausgehöhlt auf einem Holzpflock thront. Anschließend werden die „amigos secretos“ (vgl. „Wichteln“ bei uns) einer jeden Person aufgelöst und im Zuge dessen beschenkt.
 


 
 
 
 
 
Ausblick: Heiligabend in Ecuador –  Festzüge
 

Sonntag, 2. Februar 2014

Wanderlust

Wie es der Zufall will, hörte ich erstmals in meinem Studium von Vilcabamba, dem Tal der Hundertjährigen. Im Zuge einer Vorlesung, eingebettet in die Fachdisziplin „Anthropologie des Tourismus“, wurde sich der Vermarktung und Besonderheit jener Siedlung gewidmet. Zu seinem Beinamen kam es, nachdem Wissenschaftler herausgefunden haben sollen, dass überdurchschnittlich viele Menschen die Hundertermarke erreichen bzw. überschreiten. Sei dies nun der guten Luft, der Natur, dem Wetter, den Heilkräften des Wassers oder schlicht einer etwas übertriebenen Altersbestimmung der BewohnerInnen zuzuschreiben – das Tal der Langlebigkeit hat sich zu einem touristischen Ziel, wie kein zweites in Ecuador, entwickelt. Dabei ist jedoch nicht die Rede von Massentourismus; vielmehr werden spezielle Gruppen von Touristen angezogen: Hippies, Aussteiger, Öko-Touristen …, die hier das „alternative Leben“ frönen.

Es geht nicht darum, den Ort zu identifizieren, zu dem wir hingehen werden, sondern zu begreifen, wie der ideale Ort beschaffen sein müsste, zu dem jeder gerne hingehen würde.
Umberto Eco – Baudolino

Das idyllische Vilcabamba setzt sich aus einer Ansammlung ein- bis zweistöckiger Kleinhäuser zusammen, deren Zentrum ein Hauptplatz bildet, auf dem sich tagsüber das Leben abspielt. Ein persisch-vegetarisches Restaurant, eine französische Creperie und mexikanische Spezialitäten zeugen von der lokalen und internationalen Gegenwart vieler Ausländer und Dagebliebener. Tatsächlich ist die englische Sprache nicht minder präsent als das Spanische … Nichtsdestotrotz hat sich das Dorf seinen urgemütlichen und urentspannenden Charme bewahrt – bereits bei der Ankunft im ortseigenen Terminal erscheint mir die Hektik des Stadttreibens unwirklich weit weg und ich habe das Bedürfnis, nichts weiter zu tun, als mich auf eine Bank zu setzen, mit dem Gesicht gen wärmender Sonne, und dem gemächlichen Kartenspiel einer Gruppe Dorfältester zu lauschen.

 
 
LANGLEBIG
 
 
Die sechsstündige Busfahrt von Cuenca nach Vilcabamba, mit Zwischenstopp im Busbahnhof der Provinzhauptstadt Loja, bestreite ich nicht alleine, sondern im Beisein von Hugo.

Da sich das Heilige Tal, unter dessen Namen es auch bekannt ist, mit einer reichen Pflanzenwelt und einem ganzjährig milden Klima brüsten kann, ist es naheliegend, dass sich auch in mir Wanderlust regt und wir beschließen, einen der umliegenden Wasserfälle aufzusuchen. Mit Alltagskleidung, proviantlos und einer in groben Strichen skizzierten Wegweisung starten wir derart ausgerüstet unseren Ausflug.
 
Die Gebirgslandschaft, deren Wälder und sattgrüne Wiesen bis an den Horizont branden, ist von Tälern zersetzt, in denen Wasserläufe das Leben speisen. Wir folgen einem dieser Flüsse, über dessen Steinbett klares Wasser sprudelt. Nachdem wir den Ort hinter uns gelassen haben, verengt sich die Schotterstraße zu einem Trampelpfad, der durch ein dichtes Blättergewölbe führt. Es geht beständig aufwärts und nach einer Zeit verebbt das Rauschen des Wassers … Die Mittagssonne brennt vom Himmel und als wir das grüne Dach durchbrechen, fordert die Hitze bereits nach wenigen Schritten ihren Tribut – verschwitzt und durstig bietet sich uns jedoch eine (wortwörtlich) atemberaubende Aussicht. Es ist nichts zu hören, bis auf das Summen einiger Insekten und die Idee, sich hier auf unbestimmte Zeit von Wildfrüchten zu ernähren, Pilze zu sammeln, eine Ameisenkolonie zu züchten und des nachts in einer Baumkrone zu übernachten, gewinnt mit einem Mal an neuer Attraktivität …
 
Als wir ein Holzgatter passieren und uns darüber freuen, darüber auch in der Karte gelesen zu haben, werden wir plötzlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Zwei Einheimische, deren jener Weidenabschnitt gehört, informieren uns darüber, dass es auf diesen Wege nicht weiter gehe, man hätte eine Abzweigung verpasst und müsse den Fluss weiter unten queren. Auf dem Rückweg trete ich einmal ungünstig auf und rutsche prompt zwei Meter den abfallenden Hang hinunter, bevor ich mich, mit lediglich ein paar Aufschürfungen davonkommend, an einer Wurzel festkralle. Die einzige Reaktion des Einheimischen: Ja, hier muss man aufpassen. Mich über meine eigene Unbedarftheit ärgernd, stolpere ich seinem sicheren Tritt hinterher, die Augen fest auf den Boden gerichtet.
 
Am Ufer verabschieden wir uns dankend und bekommen von einem unterwegs angetroffenen Wanderer eine alternative Karte geschenkt. Nun stehen wir jedoch vor dem nächsten Dilemma: Unser ursprünglicher Plan verspricht eine Route auf der anderen Seite des Gewässers, während die Alternative davon mit drei roten Kreuzen und einem fetten „NO!!!“ abrät. Wir zögern nicht lange, geben unserem Abenteuerinstinkt nach und beginnen abermals mit dem Aufstieg, dieses Mal auf der anderen Seite des Flusses. Bald verliert sich der von Anfang an nur zaghaft angedeutete Pfad im Nichts und wir versuchen nur noch, auf schnellstmöglichen Wege die Bergkuppe zu erreichen, um von dort aus einen eventuell orientierenden Überblick zu haben.
 
Mit Geröll gefüllte Senken schränken unsere Gehmöglichkeit ein, sodass wir uns schlussendlich steil bergauf wagen, mehr auf allen Vieren als gehend, immer wieder an Gestrüpp Halt suchend. Wir erreichen eine weit abfallende Ebene mit einem Haus, wo uns jedoch zwei wild kläffende Hunde davon abhalten, den Besitzer um Rat zu fragen, und wir stattdessen den landwirtschaftlichen Betrieb mit gebührenden Abstand passieren. Erleichtert lesen wir in unserer Karte von jenem Gebäude – oder nehmen zumindest an, dass es so weit draußen nicht noch mehr Farmhäuser gibt … oder?
 
In Zickzacklinien rutschen und schlittern wir bergab, auf der Suche nach dem „cascada“, doch das uns erlösende Wasserrauschen bleibt aus … Hinzu kommt, dass die Sonne bereits die ersten Berggipfel in Brand steckt und tiefhängende dunkelgraue Wolken einen Wasserfall ganz anderer Art versprechen.
 
Schweres Herzens treten wir den Heimweg an bzw. schlagen uns durch unbekanntes Gebiet, bis schließlich - zu unserem Glück – wieder besagtes Haus in Sicht kommt. Unterwegs haben wir, als vermeintliche Abkürzung, den oberen Rand einer Senke gequert und ich löste mit einem unbedachten Schritt einen medizinballgroßen Felsbrocken aus, der in die Tiefen polterte. Wie erstarrt blieb ich stehen, unfähig mich zu rühren, mit den Gedanken an den Stein, der nur zu leicht auch einer von uns hätte sein können …
 
Nach knappen sechs Stunden, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen sind, erreichen wir mit aufgeschürften Handflächen, zerkratzten Armen und mitgenommen Jeans Vilcabamba. Zumindest leben wir noch.

 
 
 
 
 
 
Neuer Tag, neuer Versuch: Wir haben uns in den Kopf gesetzt, diesen Wasserfall zu finden, und davon sind wir nicht abzubekommen … Nach wie vor ignorieren wir den bequemen Umstand, dass es von Guides und/oder Pferde geführte Touren gibt, und statten lediglich dem Tourismusbüro einen weiteren Besuch ab: Ja, tatsächlich, viele hätten Probleme, den Wasserfall zu finden … Man könne sich aber nicht erklären, wieso …
 
Der zweite Tag startet unter keinen guten Vorzeichen – kaum verlassen wir das Hostal, beginnt es zu regnen, und, wie immer einwandfrei ausgestattet, liegt unsere Regenkleidung vergessen im Zimmer. Und auch wenn man uns davor warnt, dass sich bei Regenfall die Wege in Schlammbäche verwandeln, und an Flussüberquerungen bei solch eine Wetter sowieso nicht zu denken sein, machen wir uns abermals auf den Weg; dieses Mal in Begleitung einer in Ecuador ansässigen Belgierin, die sich nun schon zum dritten (!) Mal auf die Suche nach dem mysteriösen Wasserfall macht.
 
Gewählt wird eine etwas andere Route: Wir beginnen viel früher mit dem Aufstieg; einen Pfad folgend, der sich kanalähnlich nach oben schlängelt. Anschließend werden wir mit einem Rundum-Ausblick belohnt, als wir entlang der Bergkuppe wandern. Ich fülle meine Lungen mit erfrischender Bergluft und spüre das Leben in mir pulsieren.
 
Früher als gedacht, erreichen wir die uns bereits bekannte Farm, wissen dieses Mal jedoch, dass das von uns angestrebte Haus noch weiter weg liegt. Bergauf, bergab marschieren wir, gelegentlich einem Bachlauf ausweichend, in gebührenden Abstand eines grasenden Stieres, in Beisein zwitschernder Vögel. Ich trinke das Wasser einer Naturquelle, mit dem Versprechen, dadurch mindestens 130 Jahre alt zu werden, und mache mich voller Energie auf den Weiterweg.
 
Wir passieren ein Gatter, klettern über einen Zaun und befinden uns schließlich auf einer freien Grasfläche mit angrenzendem halb verfallenen Steinhaus – von da aus beginnt unser steiler Abstieg. Die Wanderung beginnt mich mittlerweile immer mehr an eine Schatzsuche zu erinnern, an deren Ende jedoch etwas viel befriedigenderes als Gold oder Perlen stehen würde …
 
Und endlich – endlich! – vernehmen wir das Tosen herabstürzender Wassermassen. Tief verborgen in einem Blättermeer haben wir ihn nun doch gefunden – und die Mühe hat sich gelohnt, belassen wir es nämlich nicht nur bei einer Besichtigung, sondern baden auch in jenem Wasserfall.
 
Aber wie heißt es nicht so schön: Der Weg ist das Ziel.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ausblick: Weihnachtsprogramm in der Fundacion – Ausstellung und Verkauf