Wie
es der Zufall will, hörte ich erstmals in meinem Studium von Vilcabamba, dem
Tal der Hundertjährigen. Im Zuge einer Vorlesung, eingebettet in die
Fachdisziplin „Anthropologie des Tourismus“, wurde sich der Vermarktung und
Besonderheit jener Siedlung gewidmet. Zu seinem Beinamen kam es, nachdem
Wissenschaftler herausgefunden haben sollen, dass überdurchschnittlich viele
Menschen die Hundertermarke erreichen bzw. überschreiten. Sei dies nun der
guten Luft, der Natur, dem Wetter, den Heilkräften des Wassers oder schlicht
einer etwas übertriebenen Altersbestimmung der BewohnerInnen zuzuschreiben –
das Tal der Langlebigkeit hat sich zu einem touristischen Ziel, wie kein
zweites in Ecuador, entwickelt. Dabei ist jedoch nicht die Rede von
Massentourismus; vielmehr werden spezielle Gruppen von Touristen angezogen:
Hippies, Aussteiger, Öko-Touristen …, die hier das „alternative Leben“ frönen.
Es geht nicht
darum, den Ort zu identifizieren, zu dem wir hingehen werden, sondern zu
begreifen, wie der ideale Ort beschaffen sein müsste, zu dem jeder gerne
hingehen würde.
Umberto
Eco – Baudolino
Das
idyllische Vilcabamba setzt sich aus einer Ansammlung ein- bis zweistöckiger
Kleinhäuser zusammen, deren Zentrum ein Hauptplatz bildet, auf dem sich
tagsüber das Leben abspielt. Ein persisch-vegetarisches Restaurant, eine
französische Creperie und mexikanische Spezialitäten zeugen von der lokalen und
internationalen Gegenwart vieler Ausländer und Dagebliebener. Tatsächlich ist
die englische Sprache nicht minder präsent als das Spanische … Nichtsdestotrotz
hat sich das Dorf seinen urgemütlichen
und urentspannenden Charme bewahrt –
bereits bei der Ankunft im ortseigenen Terminal erscheint mir die Hektik des
Stadttreibens unwirklich weit weg und ich habe das Bedürfnis, nichts weiter zu
tun, als mich auf eine Bank zu setzen, mit dem Gesicht gen wärmender Sonne, und
dem gemächlichen Kartenspiel einer Gruppe Dorfältester zu lauschen.
LANGLEBIG
Die
sechsstündige Busfahrt von Cuenca nach Vilcabamba, mit Zwischenstopp im
Busbahnhof der Provinzhauptstadt Loja, bestreite ich nicht alleine, sondern im
Beisein von Hugo.
Da
sich das Heilige Tal, unter dessen Namen es auch bekannt ist, mit einer reichen
Pflanzenwelt und einem ganzjährig milden Klima brüsten kann, ist es
naheliegend, dass sich auch in mir Wanderlust regt und wir beschließen, einen
der umliegenden Wasserfälle aufzusuchen. Mit Alltagskleidung, proviantlos und
einer in groben Strichen skizzierten Wegweisung starten wir derart ausgerüstet unseren Ausflug.
Die
Gebirgslandschaft, deren Wälder und sattgrüne Wiesen bis an den Horizont
branden, ist von Tälern zersetzt, in denen Wasserläufe das Leben speisen. Wir
folgen einem dieser Flüsse, über dessen Steinbett klares Wasser sprudelt.
Nachdem wir den Ort hinter uns gelassen haben, verengt sich die Schotterstraße
zu einem Trampelpfad, der durch ein dichtes Blättergewölbe führt. Es geht
beständig aufwärts und nach einer Zeit verebbt das Rauschen des Wassers … Die
Mittagssonne brennt vom Himmel und als wir das grüne Dach durchbrechen, fordert
die Hitze bereits nach wenigen Schritten ihren Tribut – verschwitzt und durstig
bietet sich uns jedoch eine (wortwörtlich) atemberaubende Aussicht. Es ist
nichts zu hören, bis auf das Summen einiger Insekten und die Idee, sich hier
auf unbestimmte Zeit von Wildfrüchten zu ernähren, Pilze zu sammeln, eine
Ameisenkolonie zu züchten und des nachts in einer Baumkrone zu übernachten,
gewinnt mit einem Mal an neuer Attraktivität …
Als
wir ein Holzgatter passieren und uns darüber freuen, darüber auch in der Karte
gelesen zu haben, werden wir plötzlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt:
Zwei Einheimische, deren jener Weidenabschnitt gehört, informieren uns darüber,
dass es auf diesen Wege nicht weiter gehe, man hätte eine Abzweigung verpasst
und müsse den Fluss weiter unten queren. Auf dem Rückweg trete ich einmal
ungünstig auf und rutsche prompt zwei Meter den abfallenden Hang hinunter,
bevor ich mich, mit lediglich ein paar Aufschürfungen davonkommend, an einer
Wurzel festkralle. Die einzige Reaktion des Einheimischen: Ja, hier muss man aufpassen. Mich über meine eigene Unbedarftheit
ärgernd, stolpere ich seinem sicheren Tritt hinterher, die Augen fest auf den
Boden gerichtet.
Am
Ufer verabschieden wir uns dankend und bekommen von einem unterwegs angetroffenen
Wanderer eine alternative Karte geschenkt. Nun stehen wir jedoch vor dem
nächsten Dilemma: Unser ursprünglicher Plan verspricht eine Route auf der
anderen Seite des Gewässers, während die Alternative davon mit drei roten
Kreuzen und einem fetten „NO!!!“ abrät. Wir zögern nicht lange, geben unserem
Abenteuerinstinkt nach und beginnen abermals mit dem Aufstieg, dieses Mal auf
der anderen Seite des Flusses. Bald verliert sich der von Anfang an nur zaghaft
angedeutete Pfad im Nichts und wir versuchen nur noch, auf schnellstmöglichen
Wege die Bergkuppe zu erreichen, um von dort aus einen eventuell orientierenden
Überblick zu haben.
Mit
Geröll gefüllte Senken schränken unsere Gehmöglichkeit ein, sodass wir uns
schlussendlich steil bergauf wagen, mehr auf allen Vieren als gehend, immer
wieder an Gestrüpp Halt suchend. Wir erreichen eine weit abfallende Ebene mit
einem Haus, wo uns jedoch zwei wild kläffende Hunde davon abhalten, den
Besitzer um Rat zu fragen, und wir stattdessen den landwirtschaftlichen Betrieb
mit gebührenden Abstand passieren. Erleichtert lesen wir in unserer Karte von
jenem Gebäude – oder nehmen zumindest an, dass es so weit draußen nicht noch
mehr Farmhäuser gibt … oder?
In Zickzacklinien rutschen und schlittern wir bergab, auf der Suche nach dem
„cascada“, doch das uns erlösende Wasserrauschen bleibt aus … Hinzu kommt, dass
die Sonne bereits die ersten Berggipfel in Brand steckt und tiefhängende
dunkelgraue Wolken einen Wasserfall ganz anderer Art versprechen.
Schweres
Herzens treten wir den Heimweg an bzw. schlagen uns durch unbekanntes Gebiet,
bis schließlich - zu unserem Glück – wieder besagtes Haus in Sicht kommt.
Unterwegs haben wir, als vermeintliche Abkürzung, den oberen Rand einer Senke
gequert und ich löste mit einem unbedachten Schritt einen medizinballgroßen
Felsbrocken aus, der in die Tiefen polterte. Wie erstarrt blieb ich stehen,
unfähig mich zu rühren, mit den Gedanken an den Stein, der nur zu leicht auch
einer von uns hätte sein können …
Nach
knappen sechs Stunden, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen sind,
erreichen wir mit aufgeschürften Handflächen, zerkratzten Armen und mitgenommen
Jeans Vilcabamba. Zumindest leben wir
noch.
Neuer
Tag, neuer Versuch: Wir haben uns in den Kopf gesetzt, diesen Wasserfall zu
finden, und davon sind wir nicht abzubekommen … Nach wie vor ignorieren wir den
bequemen Umstand, dass es von Guides und/oder Pferde geführte Touren gibt, und
statten lediglich dem Tourismusbüro einen weiteren Besuch ab: Ja, tatsächlich, viele hätten Probleme, den
Wasserfall zu finden … Man könne sich aber nicht erklären, wieso …
Der
zweite Tag startet unter keinen guten Vorzeichen – kaum verlassen wir das
Hostal, beginnt es zu regnen, und, wie immer einwandfrei ausgestattet, liegt
unsere Regenkleidung vergessen im Zimmer. Und auch wenn man uns davor warnt,
dass sich bei Regenfall die Wege in Schlammbäche verwandeln, und an
Flussüberquerungen bei solch eine Wetter sowieso nicht zu denken sein, machen
wir uns abermals auf den Weg; dieses Mal in Begleitung einer in Ecuador
ansässigen Belgierin, die sich nun schon zum dritten (!) Mal auf die Suche nach
dem mysteriösen Wasserfall macht.
Gewählt
wird eine etwas andere Route: Wir beginnen viel früher mit dem Aufstieg; einen Pfad
folgend, der sich kanalähnlich nach oben schlängelt. Anschließend werden wir
mit einem Rundum-Ausblick belohnt, als wir entlang der Bergkuppe wandern. Ich
fülle meine Lungen mit erfrischender Bergluft und spüre das Leben in mir
pulsieren.
Früher
als gedacht, erreichen wir die uns bereits bekannte Farm, wissen dieses Mal
jedoch, dass das von uns angestrebte Haus noch weiter weg liegt. Bergauf,
bergab marschieren wir, gelegentlich einem Bachlauf ausweichend, in gebührenden
Abstand eines grasenden Stieres, in Beisein zwitschernder Vögel. Ich trinke das
Wasser einer Naturquelle, mit dem Versprechen, dadurch mindestens 130 Jahre alt
zu werden, und mache mich voller Energie auf den Weiterweg.
Wir
passieren ein Gatter, klettern über einen Zaun und befinden uns schließlich auf
einer freien Grasfläche mit angrenzendem halb verfallenen Steinhaus – von da
aus beginnt unser steiler Abstieg. Die Wanderung beginnt mich mittlerweile
immer mehr an eine Schatzsuche zu erinnern, an deren Ende jedoch etwas viel
befriedigenderes als Gold oder Perlen stehen würde …
Und
endlich – endlich! – vernehmen wir
das Tosen herabstürzender Wassermassen. Tief verborgen in einem Blättermeer
haben wir ihn nun doch gefunden – und die Mühe hat sich gelohnt, belassen wir
es nämlich nicht nur bei einer Besichtigung, sondern baden auch in jenem
Wasserfall.
Aber
wie heißt es nicht so schön: Der Weg ist das Ziel.
Ausblick:
Weihnachtsprogramm in der Fundacion – Ausstellung und Verkauf
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