Sonntag, 2. Februar 2014

Wanderlust

Wie es der Zufall will, hörte ich erstmals in meinem Studium von Vilcabamba, dem Tal der Hundertjährigen. Im Zuge einer Vorlesung, eingebettet in die Fachdisziplin „Anthropologie des Tourismus“, wurde sich der Vermarktung und Besonderheit jener Siedlung gewidmet. Zu seinem Beinamen kam es, nachdem Wissenschaftler herausgefunden haben sollen, dass überdurchschnittlich viele Menschen die Hundertermarke erreichen bzw. überschreiten. Sei dies nun der guten Luft, der Natur, dem Wetter, den Heilkräften des Wassers oder schlicht einer etwas übertriebenen Altersbestimmung der BewohnerInnen zuzuschreiben – das Tal der Langlebigkeit hat sich zu einem touristischen Ziel, wie kein zweites in Ecuador, entwickelt. Dabei ist jedoch nicht die Rede von Massentourismus; vielmehr werden spezielle Gruppen von Touristen angezogen: Hippies, Aussteiger, Öko-Touristen …, die hier das „alternative Leben“ frönen.

Es geht nicht darum, den Ort zu identifizieren, zu dem wir hingehen werden, sondern zu begreifen, wie der ideale Ort beschaffen sein müsste, zu dem jeder gerne hingehen würde.
Umberto Eco – Baudolino

Das idyllische Vilcabamba setzt sich aus einer Ansammlung ein- bis zweistöckiger Kleinhäuser zusammen, deren Zentrum ein Hauptplatz bildet, auf dem sich tagsüber das Leben abspielt. Ein persisch-vegetarisches Restaurant, eine französische Creperie und mexikanische Spezialitäten zeugen von der lokalen und internationalen Gegenwart vieler Ausländer und Dagebliebener. Tatsächlich ist die englische Sprache nicht minder präsent als das Spanische … Nichtsdestotrotz hat sich das Dorf seinen urgemütlichen und urentspannenden Charme bewahrt – bereits bei der Ankunft im ortseigenen Terminal erscheint mir die Hektik des Stadttreibens unwirklich weit weg und ich habe das Bedürfnis, nichts weiter zu tun, als mich auf eine Bank zu setzen, mit dem Gesicht gen wärmender Sonne, und dem gemächlichen Kartenspiel einer Gruppe Dorfältester zu lauschen.

 
 
LANGLEBIG
 
 
Die sechsstündige Busfahrt von Cuenca nach Vilcabamba, mit Zwischenstopp im Busbahnhof der Provinzhauptstadt Loja, bestreite ich nicht alleine, sondern im Beisein von Hugo.

Da sich das Heilige Tal, unter dessen Namen es auch bekannt ist, mit einer reichen Pflanzenwelt und einem ganzjährig milden Klima brüsten kann, ist es naheliegend, dass sich auch in mir Wanderlust regt und wir beschließen, einen der umliegenden Wasserfälle aufzusuchen. Mit Alltagskleidung, proviantlos und einer in groben Strichen skizzierten Wegweisung starten wir derart ausgerüstet unseren Ausflug.
 
Die Gebirgslandschaft, deren Wälder und sattgrüne Wiesen bis an den Horizont branden, ist von Tälern zersetzt, in denen Wasserläufe das Leben speisen. Wir folgen einem dieser Flüsse, über dessen Steinbett klares Wasser sprudelt. Nachdem wir den Ort hinter uns gelassen haben, verengt sich die Schotterstraße zu einem Trampelpfad, der durch ein dichtes Blättergewölbe führt. Es geht beständig aufwärts und nach einer Zeit verebbt das Rauschen des Wassers … Die Mittagssonne brennt vom Himmel und als wir das grüne Dach durchbrechen, fordert die Hitze bereits nach wenigen Schritten ihren Tribut – verschwitzt und durstig bietet sich uns jedoch eine (wortwörtlich) atemberaubende Aussicht. Es ist nichts zu hören, bis auf das Summen einiger Insekten und die Idee, sich hier auf unbestimmte Zeit von Wildfrüchten zu ernähren, Pilze zu sammeln, eine Ameisenkolonie zu züchten und des nachts in einer Baumkrone zu übernachten, gewinnt mit einem Mal an neuer Attraktivität …
 
Als wir ein Holzgatter passieren und uns darüber freuen, darüber auch in der Karte gelesen zu haben, werden wir plötzlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Zwei Einheimische, deren jener Weidenabschnitt gehört, informieren uns darüber, dass es auf diesen Wege nicht weiter gehe, man hätte eine Abzweigung verpasst und müsse den Fluss weiter unten queren. Auf dem Rückweg trete ich einmal ungünstig auf und rutsche prompt zwei Meter den abfallenden Hang hinunter, bevor ich mich, mit lediglich ein paar Aufschürfungen davonkommend, an einer Wurzel festkralle. Die einzige Reaktion des Einheimischen: Ja, hier muss man aufpassen. Mich über meine eigene Unbedarftheit ärgernd, stolpere ich seinem sicheren Tritt hinterher, die Augen fest auf den Boden gerichtet.
 
Am Ufer verabschieden wir uns dankend und bekommen von einem unterwegs angetroffenen Wanderer eine alternative Karte geschenkt. Nun stehen wir jedoch vor dem nächsten Dilemma: Unser ursprünglicher Plan verspricht eine Route auf der anderen Seite des Gewässers, während die Alternative davon mit drei roten Kreuzen und einem fetten „NO!!!“ abrät. Wir zögern nicht lange, geben unserem Abenteuerinstinkt nach und beginnen abermals mit dem Aufstieg, dieses Mal auf der anderen Seite des Flusses. Bald verliert sich der von Anfang an nur zaghaft angedeutete Pfad im Nichts und wir versuchen nur noch, auf schnellstmöglichen Wege die Bergkuppe zu erreichen, um von dort aus einen eventuell orientierenden Überblick zu haben.
 
Mit Geröll gefüllte Senken schränken unsere Gehmöglichkeit ein, sodass wir uns schlussendlich steil bergauf wagen, mehr auf allen Vieren als gehend, immer wieder an Gestrüpp Halt suchend. Wir erreichen eine weit abfallende Ebene mit einem Haus, wo uns jedoch zwei wild kläffende Hunde davon abhalten, den Besitzer um Rat zu fragen, und wir stattdessen den landwirtschaftlichen Betrieb mit gebührenden Abstand passieren. Erleichtert lesen wir in unserer Karte von jenem Gebäude – oder nehmen zumindest an, dass es so weit draußen nicht noch mehr Farmhäuser gibt … oder?
 
In Zickzacklinien rutschen und schlittern wir bergab, auf der Suche nach dem „cascada“, doch das uns erlösende Wasserrauschen bleibt aus … Hinzu kommt, dass die Sonne bereits die ersten Berggipfel in Brand steckt und tiefhängende dunkelgraue Wolken einen Wasserfall ganz anderer Art versprechen.
 
Schweres Herzens treten wir den Heimweg an bzw. schlagen uns durch unbekanntes Gebiet, bis schließlich - zu unserem Glück – wieder besagtes Haus in Sicht kommt. Unterwegs haben wir, als vermeintliche Abkürzung, den oberen Rand einer Senke gequert und ich löste mit einem unbedachten Schritt einen medizinballgroßen Felsbrocken aus, der in die Tiefen polterte. Wie erstarrt blieb ich stehen, unfähig mich zu rühren, mit den Gedanken an den Stein, der nur zu leicht auch einer von uns hätte sein können …
 
Nach knappen sechs Stunden, die mir wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen sind, erreichen wir mit aufgeschürften Handflächen, zerkratzten Armen und mitgenommen Jeans Vilcabamba. Zumindest leben wir noch.

 
 
 
 
 
 
Neuer Tag, neuer Versuch: Wir haben uns in den Kopf gesetzt, diesen Wasserfall zu finden, und davon sind wir nicht abzubekommen … Nach wie vor ignorieren wir den bequemen Umstand, dass es von Guides und/oder Pferde geführte Touren gibt, und statten lediglich dem Tourismusbüro einen weiteren Besuch ab: Ja, tatsächlich, viele hätten Probleme, den Wasserfall zu finden … Man könne sich aber nicht erklären, wieso …
 
Der zweite Tag startet unter keinen guten Vorzeichen – kaum verlassen wir das Hostal, beginnt es zu regnen, und, wie immer einwandfrei ausgestattet, liegt unsere Regenkleidung vergessen im Zimmer. Und auch wenn man uns davor warnt, dass sich bei Regenfall die Wege in Schlammbäche verwandeln, und an Flussüberquerungen bei solch eine Wetter sowieso nicht zu denken sein, machen wir uns abermals auf den Weg; dieses Mal in Begleitung einer in Ecuador ansässigen Belgierin, die sich nun schon zum dritten (!) Mal auf die Suche nach dem mysteriösen Wasserfall macht.
 
Gewählt wird eine etwas andere Route: Wir beginnen viel früher mit dem Aufstieg; einen Pfad folgend, der sich kanalähnlich nach oben schlängelt. Anschließend werden wir mit einem Rundum-Ausblick belohnt, als wir entlang der Bergkuppe wandern. Ich fülle meine Lungen mit erfrischender Bergluft und spüre das Leben in mir pulsieren.
 
Früher als gedacht, erreichen wir die uns bereits bekannte Farm, wissen dieses Mal jedoch, dass das von uns angestrebte Haus noch weiter weg liegt. Bergauf, bergab marschieren wir, gelegentlich einem Bachlauf ausweichend, in gebührenden Abstand eines grasenden Stieres, in Beisein zwitschernder Vögel. Ich trinke das Wasser einer Naturquelle, mit dem Versprechen, dadurch mindestens 130 Jahre alt zu werden, und mache mich voller Energie auf den Weiterweg.
 
Wir passieren ein Gatter, klettern über einen Zaun und befinden uns schließlich auf einer freien Grasfläche mit angrenzendem halb verfallenen Steinhaus – von da aus beginnt unser steiler Abstieg. Die Wanderung beginnt mich mittlerweile immer mehr an eine Schatzsuche zu erinnern, an deren Ende jedoch etwas viel befriedigenderes als Gold oder Perlen stehen würde …
 
Und endlich – endlich! – vernehmen wir das Tosen herabstürzender Wassermassen. Tief verborgen in einem Blättermeer haben wir ihn nun doch gefunden – und die Mühe hat sich gelohnt, belassen wir es nämlich nicht nur bei einer Besichtigung, sondern baden auch in jenem Wasserfall.
 
Aber wie heißt es nicht so schön: Der Weg ist das Ziel.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ausblick: Weihnachtsprogramm in der Fundacion – Ausstellung und Verkauf

 

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